Evolutionshinweise aus der Morphologie

Die Morphologie beschäftigt sich mit der Struktur und Form von Organismen und ihren Organen. Durch Vergleich der Morphologie von Organismen können viele Informationen zur Abstammung und Verlauf der Evolution von Organismen und Organen gewonnen werden. Folgende Themen werden in diesem Absachnitt behandelt:

  1. Abstammungsähnlichkeiten und Homologe Merkmale
  2. Konvergente Evolution und Analoge Merkmale
  3. Rudimentäre Organe
  4. Atavismus

Abstammungsähnlichkeiten (Homologien)

Im Zuge der Anpassung an die jeweiligen Umweltbedingungen können sich Organe bzw. Merkmale teilweise sehr stark verändern. Obwohl diese Veränderungen bzw. das Aussehen der Organe sehr unterschiedlich sein können, weisen sie dennoch Ähnlichkeiten auf. Solche Organe werden homologe Organe genannt. Homologe Merkmale gehen auf Merkmale des gemeinsamen Vorfahren zurück. Homologe Merkmale spielen bei der Erstellung von Stammbäumen eine wichtige Rolle.

Um eine Homologie zwischen anatomischen Merkmalen festzustellen, wurden drei Hauptkriterien „Lage“, „Struktur“ und „Kontinuität“ vorgeschlagen, von denen mindestens eines zutreffen muss, damit man von einer „Homologie“ sprechen kann. Es können aber auch mehrere dieser Kriterien gleichzeitig auf homologe Strukturen zutreffen!

Homologie-Kriterium der Lage

Strukturen sind dann homolog, wenn sie trotz unterschiedlicher Ausprägung in Gestalt und Anzahl in einem vergleichbaren Lageplan stets die gleiche Lagebeziehung aufweisen. Nachfolgend einige Beispiele:

  • Obwohl Insektenbeine völlig unterschiedlich aussehen können und unterschiedliche Funktionen übernehmen können, erfüllen sie das Kriterium der Lage, denn sie sind alle am Thorax des Tieres angesetzt.
  • Die Verdauungsorgane von verschiedenen Wirbeltieren zeigen die typische Gliederung in Mund–Speiseröhre–Magen–Darm–After.
  • Der Grundbauplan der Vordergliedmaßen von Landwirbeltieren besteht aus Knochen, die in der Abfolge von einem Oberarmknochen, zwei Unterarmknochen, mehreren Handwurzelknochen, fünf Mittelhandknochen und fünf Fingern. Dabei hat der Daumen zwei Fingerknochen und die restlichen vier jeweils drei Fingerknochen. Trotz identischer innerer Struktur kann das Aussehen und die Funktion der Vordergliedmaßen bei verschiedenen Wirbeltierklassen sehr verschieden sein, denn sie dienen dem Laufen, Graben, Fliegen, Greifen oder Schwimmen.

Homologie-Kriterium der Struktur (spezifischen Qualität)

Ähnliche Strukturen können auch ohne Rücksicht auf die gleiche Lage homologisiert werden, wenn sie in zahlreichen Sondermerkmalen übereinstimmen. Die Sicherheit wächst mit dem Grad der Komplexität der verglichenen Struktur. Maßgeblich für das Homologiekriterium der spezifischen Qualität ist also der „innere Aufbau“ eines Organs oder einer Struktur. Ein gutes Beispiel hierfür sind der menschliche Zahn und die Hautschuppe eines Hais. Der menschliche Zahn und die Hautschuppe eines Hais sind nach dem Homologiekriterium der spezifischen Qualität homolog, da die äußerste Schicht aus Zahnschmelz und die darunterliegende Schicht aus Dentin besteht.

Homologie-Kriterium der Kontiuität

Organe sind dann homolog, wenn sie trotz unterschiedlicher Lage durch Zwischenformen, die sich homologisieren lassen, in Verbindung gebracht werden können. Beispiele hierfür sind:

  • Blutgefäßsysteme von Säugetieren und Fischen
    Bestimmte Teile des Blutgefäßsystems (Halsschlagader) von Säugetieren lassen sich aufgrund von Embryonalstadien („Kiemenspalte“) mit den Kiemenbogenarterien der Fische homologisieren.
  • Die Schwimmblase von Knochenfischen und die Lunge von Landwirbeltieren sind homolog, da sich die Entwicklung von der Schwimmblase zur Lunge mit Hilfe der Amphibien und Reptilien nachvollziehen lässt.
  • Homologie der Innenohrknochen
    Die Homologie des Articulare und Quadratum des Unterkiefers von Amphibien, Reptilien und Vögel mit Amboss und Hammer im Mittelohr der Säugetiere ist durch viele fossile Zwischenformen dokumentiert (Kontinuität).

Während der Embryonalentwicklung werden Homologien zu spezifischen Arten sichtbar, die allerdings nur von vorübergehender Dauer und beim endgültig entwickelten Lebewesen nicht mehr feststellbar sind (da in jedem Stadium der Ontogenese tiefgreifend umgestaltende Veränderungen von evolutionärer Bedeutung auftreten können). Der menschliche Embryo weist in einem bestimmten Entwicklungsstadium eine Kiemenspalte (Kiemenanlage) und damit eine unverkennbare Ähnlichkeit mit den Fischen auf, die später wieder verschwindet. Der Vogelflügel ist mit der Hand des Menschen homologisierbar, da der Vogelembryo noch eine Hand mit fünf Fingern aufweist, die im Laufe seiner Entwicklung durch Verschmelzung und Reduktion umgebaut werden.

Auch Verhaltensweisen können homolog sein. Beispiele: das (angeborene) Balzverhalten innerhalb verwandter Vogelgruppen, etwa von verschiedenen Entenarten oder Hühnerartigen.

Es gibt viele Beispiele für Homologien. Ich empfehle dir möglichst viele von ihnen kennenzulernen. Dadurch wird dich nichts mehr in der Klausur überraschen können. Eine gute Übung wäre es, zu versuchen im Nachgang einige Homologiebeispiele mit eigenen Worten wiederzugeben.

Analoge Merkmale und Konvergente Evolution

Ähnlichkeit der Struktur von Organen, Merkmalen oder Verhaltensweisen unterschiedlicher Lebewesen, deren gemeinsame Vorfahren diese Ausprägung nicht aufwiesen, werden als Analogien bezeichnet. Analogien zeigen, dass allein die Ähnlichkeit eines Merkmals noch keinen Rückschluss auf Verwandtschaft erlaubt. Ähnliche Merkmale deuten i. d. R. auf dieselbe oder eine ähnliche Funktion hin.

Bei nicht näher verwandten Arten wird die Entwicklung von analogen Merkmalen als konvergente Evolution (kurz: Konvergenz) bezeichnet. Zusätzlich zu den Ähnlichkeiten in ihrer Funktion können sich analoge Organe auch äußerlich und teilweise sogar anatomisch ähneln. Sie sind aber während der Evolution unterschiedlich und unabhängig voneinander entstanden, so dass sie KEINE Verwandtschaftsbeziehungen abbilden.

Entsprechend den vielen Funktionen, die Organe übernehmen können, gibt es viele Beispiele für analoge Merkmale: die Grabbeine von Maulwurfsgrillen (Insekten) und Maulwürfen (Säugetiere), das Innenskelett von Kopffüßern und Wirbeltieren, die Flügel von Vögeln, Fledermäuse und Flugsauriern, die Flügel eines Vogels und die Flügel eines Schmetterlings, die papageienartigen Schnäbel bei Kopffüßern, Papageien und Alligatorschildkröten, die entenartigen Schnäbel bei Enten, Schnabeltieren und Hadrosauriern, der schlangenförmige Körperbau bei Aalen, Blindschleichen, Schleichenlurchen und Schlangen, die Stromlinienform bei schnell schwimmenden Wirbeltieren wie Haien, Delphinen, Ichthyosauriern und Pinguinen, Linsenauge bei Kopffüßern und Wirbeltieren.

Das Gegenteil zur Analogie, nämlich gemeinsame Merkmale, die von einem gemeinsamen Vorfahren ererbt und dadurch einander ähnlich sind, wird als Homologie bezeichnet. Obwohl homologe Organe den gleichen Ursprung haben, weisen sie unterschiedliche Funktionen auf. Sie können sich über lange Zeiträume auseinanderentwickeln (Divergenz) und dann beim Vergleich der Arten sehr unterschiedlich aussehen. Klausurtipp: meistens sind ähnliche Organe analog, und völlig unterschiedlich aussehende Organe homolog.

Ich habe Probleme bei der Unterscheidung von Homologien und Analogien!

Das ist normal, da die Unterscheidung zwischen „analog“ und „homolog“ teilweise standpunktabhängig ist. Flossen von Delphinen und Pinguinen stellen homologe Extremitäten dar. Die Flossenstrukturen gehen aber nicht auf gemeinsame Vorfahren zurück. Sie stellen analoge Merkmale dar. Ein anderes Beispiel sind die Flügel von Fledermäusen und Vögeln. Obwohl sie als Folge von analogen Entwicklungen entstanden sind (Fliegen), basieren sie dennoch auf homologe Extremitäten, nämlich die Vorderextremitäten von Sauropsida vor etwa 310 Millionen Jahren (gemeinsame Vorfahren).

Rudimente

Merkmale, die im Laufe der Evolution teilweise oder ganz ihre Funktion verloren haben, aber noch vorhanden sind, werden als Rudimente bezeichnet. Achtung: Rudimente können immernoch Aufgaben erledigen und müssen nicht zwangsläufig komplett funktionslos sein!!! Im Gegensatz zu Atavismen, die nur bei einzelnen Individuen auftreten, kommen Rudimente bei vielen oder allen Individuen einer Art vor. Rudimente können grundsätzlich bei allen Organismen auftreten und gelten als klassische Evolutionsbelege.

Der Rückbildungsvorgang, die von einem funktionsfähigen Merkmal ausgeht, wird als Rudimentation bezeichnet. Während der Rudimentation sammeln sich in der DNA Mutationen ohne die Fitness des Organismus negativ zu beeinflussen. Dies kann über lange Zeiträume zur Verkümmerung des entsprechenden Merkmals in einer Population führen (regressive Evolution).

Beispiele für Rudimente beim Menschen sind: verkümmerte Weisheitszähne, spitzer Eckzahn, Ohrhöcker am Außenrand der Ohrmuschel, Rest der Nickhaut, Blinddarm mit Wurmfortsatz, Steißbein, funktionslose Muskeln der Ohrmuscheln und Segmentierte, parzellierte Bauchmuskeln.
Rudimente bei Tieren

Beispiele für Rudimente im Tierreich sind: winzige Reste des Beckengürtels bei Walen, Reste des Ober- und Unterschenkels beim Grönlandwal, Reste von Hinterextremitäten bei Riesenschlangen, Gehäusereste bei Nacktschnecken, Augen beim Maulwurf, Schulter- und Beckengürtelreste bei Blindschleichen, Stummelförmige Flügelreste beim Kiwi, Nägel an den Flossen bei Seelöwen und Walrossen, Griffelbeine beim Pferd, Wolfskralle beim Hund, reduzierte Eckzähne bei Hirschen.

Ein gutes Beispiel für rudimentäres Verhalten ist der Greifreflex von menschlichen Säuglingen. Bei Affen krallen sich die Säuglinge im Fell ihrer Mutter fest, während diese sich von Ast zu Ast hangelt oder sich auf allen vieren auf dem Boden bewegt. Beim Menschen hingegen, ist der Körper der Mutter weitestgehend haarlos und die Bewegung findet auf zwei Beinen statt, wobei die Arme zum Tragen und Festhalten der Säugling frei sind. Bei menschlichen Babys ist der Greifreflex also ein rudimentäres Verhalten, da er nicht mehr Überlebenswichtig ist.

Atavismus

Das Wiederauftreten von anatomischen Merkmalen, die bei entfernteren Vorfahren ausgebildet waren, bei den direkten Vorfahren jedoch reduziert wurden, wird als Atavismus bezeichnet. Die wieder aufgetretenen Merkmale haben für den gegenwärtigen Organismus keinerlei Funktion, was dazu führt, dass Atavismen häufig als Missbildung wahrgenommen werden. Atavismen sind Belege für die Evolutionstheorie und können bei allen Lebewesen gleichermaßen auftreten.

Die Bildung von Atavismen kann unterschiedliche Ursachen haben. In der Regel führt eine Mutation zur Deaktivierung bzw. Aktivierung eines Gens, das die Bildung des Merkmals im Normalzustand unterdrückt hätte. Auch Änderungen der Genregulation können zur Ausbildung von Atavismen führen.

Es existieren viele Beispiel für Atavismus. Es ist immer Hilfreich einige Beispiel für die Klausur parat zu haben. Bei Menschen sind es u. a. Halsrippen, Halsfisteln, Ausbildung eines Schwanzes, zusätzliche Brustwarzenpaare, mit Fell bedeckter Körper (und nein, obwohl ich so behaart bin, handelt es sich nicht um einen Atavismus! Die Körperbehaarung ist eher ein rudimentäres Merkmal.)

Bei Tieren können z. B. überzähligen Klauen (z. B. bei Rindern, Kamelen und Pferden) auftreten. Bei Meeressäugetieren wie Walen und Delphinen oder auch bei Schlangen werden ab und zu die Hinterextremitäten ausgebildet. Und wenn flügellose Fluginsekten ganz spontan Flügel ausbilden, dann ist das definitiv ein Atavismus. Bei Pflanzen z. B. existieren Kakteen mit auftretenden Blättern.
Wenn angeborene Verhaltensweisen, die im Verlauf der Evolution abgelegt wurden, wieder auftreten, dann spricht man vom Verhaltensatavismus. Beispielsweise kann das Fight-or-flight-Syndrom des Menschen als Verhaltensatavismus interpretiert werden, denn dabei treten die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten in den Hintergrund zugunsten instinktgesteuerter häufig irrationaler Reaktionen (man sieht rot und ist unzurechnungsfähig vor Wut).

Bei Haussperlingen (eine Vogelart) kann es ab und an vorkommen, dass einzelne Tiere gelegentlich ihre Nester nicht wie üblich bauen, sondern stattdessen Kugelnester errichten, wie sie für ursprüngliche Webervögel charakteristisch sind. Die Formgebung des Nestplatzes ist angeboren und nicht erlernt, sodass der Vogel völlig instinktgesteuert handelt

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